Repressionen gegen Teilnehmer der Anti-Korruptions-Aktion vom 26. März 2017

Die Aktionen gegen Korruption, die am 26. März in dutzenden russischer Städte stattfanden, haben zu einer neuen Repressionswelle gegen Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen und die Zivilgesellschaft an sich geführt. Dabei geht es nicht nur und nicht so sehr um die Festnahmen als solche, die Verwaltungshaftstrafen und hohe Geldstrafen; als Antwort auf die massenhafte Teilnahme von Bürgern an Protestaktivitäten hat die Staatsmacht eine massenhafte Kampagne der Verfolgung von Aktivisten begonnen.

Aktuell sind bereits fünf Personen in Moskau verhaftet und in Untersuchungsgefängnissen untergebracht worden im Zusammenhang mit einigen Ermittlungsverfahren in Strafsachen, die infolge der Ereignisse vom 26. März eingeleitet wurden. Ihnen drohen schwerwiegende Haftstrafen bis hin zu lebenslänglich. Mindestens in vier russischen Städten gibt es bereits Beschuldigte für einzelne Vorkommnisse, die mit den Anti-Korruptions-Aktionen und den laufenden Protesten zusammenhängen.

Leider ist das noch nicht alles. Eine Analyse der Informationen, die OVD-Info täglich sammelt, erlaubt den eindeutigen Schluß: Die Staatsorgane üben gezielt Druck auf die Festgenommenen und Verhafteten aus, um die notwendigen Zeugenaussagen für die Einleitung eines Strafverfahrens vorzubereiten, im Rahmen dessen jeder Aktionsteilnehmer zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Ermittlung, mit der das Ermittlungskomitee bereits begonnen hat, kann hunderte und tausende Menschen betreffen, dutzende Personen können verhaftet werden.

Das Strafverfahren, das sich vor unseren Augen entwickelt, kann zum größten politischen Prozess in der neueren Geschichte Russlands werden.

Festnahmen und Verfolgung nach Ordnungswidrigkeitenrecht

In dutzenden russischer Städte haben die Aktionen in Festnahmen geendet — mehr als 1500 Personen fanden sich auf Polizeiwachen wieder. Allein in Moskau wurden auf der Tverskaja Straße und in ihrer Umgebung mindestens 1043 Menschen verhaftet. Dabei erfolgten die Festnahmen in grober Form, unter Einsatz von Sondermitteln [Anm.d.Übers.: Waffen mit nicht-tödlichen Folgen, z. B. Schlagstöcke, Reizgas] und körperlichem Zwang, der in keinster Weise der Aufgabe gerecht wird, die Sicherheit bei einer friedlichen Protestveranstaltung zu gewährleisten. Zudem nahm die Polizei etwa 70 Minderjährige fest und verbrachte sie auf Polizeiwachen.

Während der Festnahmen und des Transports auf die Polizeiwachen wurden in Moskau viele Aktionsteilnehmer von der Polizei zusammengeschlagen: OVD-Info ist dies aus den Angaben der Festgenommenen selbst bekannt, die Hotline angerufen haben. Weiter aus Videoaufnahmen und den Angaben von Augenzeugen, unabhängigen Beobachtern und Journalisten, die bei der Aktion anwesend waren.

Radio Svoboda (Video): “Zu Zehnt auf Einen - so nahm die Polizei einen Teilnehmer der Protestaktion “Für euch ist er nicht Dimon” auf dem Puschkin-Platz in Moskau fest”, 26.03.2017

Wir müssen feststellen, dass die Erklärung der Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkova, es habe «keinen einzigen Fall von Körperverletzungen gegeben», nicht den Tatsachen entspricht. Der Umstand, dass es seitens der Festgenommenen keine offiziellen Beschwerden gibt, kann und darf für Rechtsschutzinstitutionen, zu denen auch der Apparat der Menschenrechtsbeauftragten zählt, kein Beweis dafür sein, dass seitens der Polizei keine Verstöße stattfanden. Seit vielen Jahren dokumentiert OVD-Info die Praxis, dass Strafverfahren nach § 318 StGB RF [Anm.d.Übers.: Anwendung von Gewalt gegen einen Vertreter der Staatsmacht] entweder eingeleitet oder angedroht werden, falls die zusammengeschlagenen Aktivisten sich wegen Gewalt zu beschweren versuchen oder entsprechende Strafanzeigen gegen Polizeibeamte stellen wollen. Es ist wichtig anzumerken, dass die Mitarbeiter des Ermittlungskomitees, die Festgenommenen in der Nacht vom 26. auf den 27. März verhörten, sich insbesondere für das Vorliegen von Verletzungen und Schläge durch die Polizei interessierten. Im Nachgang wurden genau auf der Grundlage von § 318 StGB RF Maßnahmen gegen diejenigen, die in Strafverfahren vorkommen, verhängt. Einer von ihnen, Aleksandr Shpakov, hat bereits erzählt, dass er von der Polizei bei der Festnahme zusammengeschlagen und von einem Notarztwagen aus der Polizeiwache ins Krankenhaus gebracht wurde.

Den meisten Festgenommenen wurden unterschiedliche Ordnungswidrigkeiten vorgeworfen. Insgesamt haben nach OVD-Info vorliegenden Daten bis zum 18. April bereits 586 Gerichtsverfahren stattgefunden, ein Teil wurde vertagt. Nach offiziellen Angaben des Moskauer Stadtgerichts gab es bis dahin 732 Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen Personen, die am 26. März auf der Tverskaja Straße festgenommen worden waren.

Nach § 19.3 OWiG RF [Anm.d.Übers.: Nichtbefolgen einer rechtmäßigen Anweisung eines Polizeibeamten] wurden in Moskau nach offiziellen Angaben 138 Personen zur Verantwortung gezogen. Nach OVD-Info vorliegenden Informationen wurden aufgrund dieses und anderer Paragraphen 64 Personen zu Arreststrafen zwischen zwei und 25 Tagen verurteilt, insgesamt liegen die Arreststrafen bei 646 Tagen. Die übrigen aufgrund dieses Paragraphen Festgenommenen haben bis zu 48 Stunden auf Polizeiwachen verbracht und wurden dann freigelassen.

Der grundlegendste «Versammlungs»-Paragraph § 20.2 OWiG RF [Anm.d.Übers.: Verstoß gegen die Regelungen zu Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Kundgebung, Demonstration, eines Marschs oder Einzelkundgebung] hat im Tverskoj-Bezirks-Gericht zu 469 Verfahren geführt. In allen uns bekannten Fällen befanden die Richter die Festgenommenen für schuldig und verurteilten sie zu Geldstrafen zwischen 10.000 und 20.000 Rubeln [Anm.d.Übers.: ca 165 — 330 Euro] (die Gesamtsumme der Geldstrafen hat schon 5 Millionen Rubel [Anm.d.Übers.: ca. 82.560 Euro] überschritten). Ordnungswidrigkeitsverfahren werden im Tverskoj-Gericht und Moskauer Stadtgericht noch mindestens den ganzen Mai und Juni laufen. Ein detaillierter Blick auf den Verlauf der Verhandlungen, die Akten der Ordnungswidrigkeitsverfahren und die Entscheidungen des Gerichts in Fällen des § 20.2 OWiG RF erlaubt die Aussage, dass alle uns bekannten Gerichtsentscheidungen einen eindeutigen rechtswidrigen Charakter haben.

Die Konstruierung eines Strafverfahrens

Parallel findet bereits seit dem Abend des 26. März die Vorbereitung eines Strafverfahrens statt. Derzeit haben die Staatsorgane bereits die Einleitung einiger Strafverfahren nach einer ganzen Reihe von Paragraphen verkündet, es sind die Verhaftungen von fünf Personen in Moskau bekannt, die Zahl der Verdächtigen wächst.

OVD-Info liegt die Information vor, dass an diesen Verfahren mindestens 145 Ermittler arbeiten. Einige von ihnen haben bereits im «Bolotnaja-Fall» gearbeitet, insbesondere der Leiter der Ermittlergruppe, der Generalmajor der Justiz Rustam Gabdulin, der auch in diesem Fall die Ermittlungen leitet.

Am Abend des 26. März wurde die Einleitung eines Verfahrens nach § 318 StGB RF (Angriff auf das Leben eines Mitarbeiters der Rechtspflegeorgane) bekannt. Später stellt sich heraus, dass der Geschädigte Evgenij Gavrilov ist, Angehöriger des Zweiten Operativen Regiments der Hauptabteilung des Innenministeriums für Moskau, der im Bolotnaja-Fall [Anm.d.Übers.: Strafverfahren nach der Demonstration gegen Wahlfälschung am 6. Mai 2012] Geschädigter war — nach Ermittlungsangaben hat Ivan Nepomnjashhich, der derzeit eine Haftstrafe in einem Lager verbüßt, gegen ihn «Gewalt angewendet». Nach unbestätigten Angaben hat Gavrilov am 26. März ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten.

Am selben Abend erschienen Ermittler des Ermittlungskomitees in mindestens 24 der über 50 Moskauer Polizeiwachen, auf die Festgenommenen verbracht worden waren, und verhörten die Festgenommenen. Nach Angaben der Festgenommenen selbst teilten ihnen die Ermittler in den verschiedenen Wachen dabei unterschiedliche Informationen mit, im Rahmen welches Strafverfahrens das Gespräch geführt werde: mal hieß es, es sei ein Verfahren wegen Massenunruhen; mal hieß es, es ginge um «Extremismus». In Anbetracht der schweren prozessualen Verstöße (z. B. kein Zugang für Rechtsanwälte zu den Festgenommenen) und der OVD-Info bekannten Fakten über auf die Festgenommenen ausgeübten Drucks bei diesen «Befragungen», lässt sich schon jetzt sicher sagen, dass es nicht um die Sammlung von Material geht, sondern um eine vollwertige Fälschung eines Strafverfahrens.

Danach erhielten viele Festgenommene Vorladungen zu Verhören; und im Zusammenhang mit der Teilnahme von Schülern an den Aktionen lud das Ermittlungskomitee Direktoren und andere Mitarbeiter der Schulen vor, an denen die Festgenommenen Schüler sind.

Außerdem gab es am 26. März die Information, dass ein Ermittlungsverfahren wegen Erweckens von Hass oder Feindseligkeit (§ 282 StGB RF) eingeleitet worden sei: Nach Mitteilung von Kira Jarmysh, Pressesprecherin von Aleksej Naval’nyj, wurde dieser Paragraph während der Durchsuchung des Büros des Fonds für Korruptionsbekämpfung Leonid Volkov, dem Leiter des Wahlstabes des Politikers, vorgeworfen. Nach Angaben der Zeitung RBK wurden die im Büro des Fonds für Korruptionsbekämpfung Festgenommenen zu diesem Straftatbestand befragt, bislang gibt es aber keine weitere Entwicklung in dieser Geschichte.

Am 27. März verkündete das Ermittlungskomitee bereits ein Ermittlungsverfahren nach drei Paragraphen: außer § 317 StGB wurden auch § 213 StGB (Rowdytum) und § 318 II StGB (Anwendung von Gewalt gegen einen Vertreter der Staatsmacht, Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren) angeführt. Im Rahmen dieses Verfahrens wird laut Ermittlungskomitees geprüft, ob «nicht nur Minderjährigen, sondern auch anderen Teilnehmern an der Veranstaltung eine Belohnung für den Fall der Festnahme wegen der Teilnahme an einer nicht-genehmigten Massenaktion am 26. März in Moskau angeboten worden war». Die Mitteilung des Ermittlungskomitees erschien kurz nach der Erklärung von Putins Pressesprecher Dmitij Peskov über die Tatsache einer «Bezahlung» für die minderjährigen Teilnehmer an der Aktion.

Im Rahmen dieses Verfahrens wurden bei Aleksej Naval’nyj im Sondergefängnis Nr. 2, wo er seine Arreststrafe verbüßt, Gegenstände eingezogen, darunter die Schnürsenkel.

Einige Tage später wurde bekannt, dass Verhöre der Teilnehmer der Moskauer Aktion, die vom Gericht zu Arresthaft verurteilt worden waren, begannen. Vertreter einer unbekannten Staatsstruktur, die sich nicht vorstellten und keine Dokumente vorlegten, verhörten die Festgenommenen in den Sondergefängnissen und auf der Petrovkastr. 38 [Anm.d.Übers: Sitz der Hauptverwaltung des Innenministeriums für Moskau]. Dabei wurde den Verhafteten gedroht, sie wurden unmenschlich behandelt und es wurden verschiedene Techniken psychologischen Drucks ausgeübt. Die unbekannten operativen Mitarbeiter gaben den Verhörten eindeutig zu verstehen, dass ein neuer «Bolotnaja-Fall» vorbereitet wird.

Auch diese Verhöre können zur Grundlage für ein gefälschtes Strafverfahren werden.

Verhaftungen in Moskau

Verfahren wegen Gewalt am 26. März

Am 13. April veröffentlichte das Ermittlungskomitee eine Presseerklärung, in der es die Verhaftung und Vorlage einer Beschuldigung gegen vier Personen in einem Strafverfahren mitteilte, das wegen angeblich gesetzwidriger Handlungen bei einer Massenaktion am 26. März auf dem Puschkinplatz und angrenzenden Territorien, die nicht mit den Staatsorganen abgesprochen war, eingeleitet wurde. Grundlage sind §§ 213 StGB RF [Anm.d. Übers.: Rowdytum], 317 StGB RF [Anm.d. Übers.: Angriff auf das Leben eines Vertreters der Rechtspflegeorgane] und 318 StGB RF [Anm.d. Übers.: Anwendung von Gewalt gegen einen Vertreter der Staatsmacht].

Alle Festgenommenen — Jurij Kulij, Aleksandr Shpakov, Stanislav Zimovec, Andrej Kosych — erhielten aufgrund von Gerichtsentscheidungen zwei Monate Untersuchungshaft. Die Verfahren fanden am 28. März, 1., 6., und 13. April statt. Die abschließenden Beschuldigungen wurden bislang nicht vorgelegt.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Erklärung des Ermittlungskomitees für die Gemeinschaft der Menschenrechtler unerwartet kam: Keiner der Festgenommenen (mit Ausnahme der Familie von Jurij Kulij) hat um professionellen Rechtsbeistand ersucht, es gab keine öffentlich zugänglichen Informationen über die Festnahmen und ihnen vorausgehende Durchsuchungen. Entsprechend arbeiten mit allen Festgenommenen, außer Kulj, seit der Festnahme «Pflichtverteidiger» — d.h. Anwälte, die Verteidigung ohne Einverständnis mit dem Mandanten wahrnehmen, aufgrund der Initiative von Vor-Ermittlern, Ermittlern oder Gerichten, was in Verbindung mit dem Druck durch die Ermittlungsorgane dazu geführt haben kann, dass zwei Beschuldigte die Schuld eingestanden haben. Häufig überzeugen gerade Pflichtverteidiger ihre Mandanten, die Schuld zuzugeben oder sich auf eine «besondere Behandlung» beim Verfahren einzulassen.

OVD-Info konnte den Aufenthaltsort aller Beschuldigten feststellen:

Andrej Kosych (geb. 1986) befand sich im Isolator für vorübergehende Festnahmen in der Hauptverwaltung des Innenministeriums für Moskau (Petrovkastr. 38). Derzeit ist sein Aufenthaltsort unbekannt, spätestens zum 23. April hätte er ins Untersuchungsgefängnis überführt werden müssen, nicht später als zehn Tage nach seiner Unterbringung im Isolator für vorübergehende Festnahmen.

Jurij Kulij (geb. 1989) und Aleksandr Shpakov (geb. 1977) sind im Ermittlungsisolator Nr. 5 (Untersuchungsgefängnis «Vodnik)

Stanislav Zimovec (geb. 1985) wurde im Ermittlungsisolator Nr. 2 (Untersuchungsgefängnis «Butyrka») untergebracht. Nach Information durch Dmitrij Piskunov, Mitglied der gesellschaftlichen Beobachterkommission [Anm. d Übers.: die Zugang auch zu Gefängnissen haben] befindet sich Zimovec in der Abteilung für «Lebenslängliche», d.h. In einer Abteilung für diejenigen, denen Verbrechen mit lebenslanger Haftstrafe vorgeworfen werden. Nach Angaben von Piskunov befindet sich in der Zelle noch eine andere Person, der ein anderes Verbrechen vorgeworfen wird.

Diese Zellen sind mit Videoüberwachung ausgestattet. Warum Zimovec dort untergebracht wurde, wissen wir nicht; aber es ist nicht auszuschließen, dass ihm die Begehung eines Verbrechens nach § 317 StGB RF vorgeworfen wird, der Freiheitsentzug ab 12 Jahren bis zu lebenslänglich und sogar die durch Moratorium ausgesetzten Todesstrafe vorsieht.

Jurij Kulij vertritt der Rechtsanwalt Aleksej Lipcer. Unabhängige Rechtsanwälte, die bereit sind mit Zimovcev zu arbeiten, konnten den Verfahren bislang nicht beitreten, weil das Ermittlungskomitee ihnen bürokratische Hürden in den Weg legt.

Der Fall Jurij Kulij

Jurij Kulij. Foto: Marija Karpuchina / Dozhd - TV Rain

Jurij Kulij ist Schauspieler, 27 Jahre. Geboren in Volgograd, wurde aber bei sich zuhause in Moskau festgenommen. Am 4. April wurde seine Wohnung durchsucht, danach wurde er verhört, es gab eine Gegenüberstellung und schon am 6. April wurden vom Basmannyj-Bezirks-Gericht zwei Monate Untersuchungshaft verhängt.

Kulij teilte seinem Anwalt mit, dass er nur einen älteren Mann und einen Mitarbeiter der OMON [Anm. d. Übers.: Sondereinheit des Innenministeriums] voneinander trennen wollte. Der Grund für die Festnahme war eine Videoaufzeichnung von der Aktion. Allerdings ist es nach Angaben des Anwaltes schwierig, Einzelheiten zu erkennen, und die Videoaufnahme kann kein Beweis für Gewaltanwendung sein. In der Akte gibt es auch die Aussage eines Polizeibeamten, der Kulij als Person benennt, «die ihn an der Hand gefasst hat und ihm dadurch Schmerzen zugefügt hat» (dabei hat der Polizeibeamte keine körperlichen Verletzungen).

In einem Interview erzählte Lipcer, dass er den Vorfall für keinen Anlass zu einem Gerichtsverfahren hält. Bei einem Verhör am Vortag einer Gerichtssitzung hatte Jurij Kulij seine Schuld eingestanden. Lipcer betonte, dass das geschah, als Kulij von einem Pflichtverteidiger vertreten wurde und er persönlich hält diese Entscheidung für falsch.

Yuri Kulii wird angeklagt, einen Polizisten anzugreifen / Ermittlungskomitee

«Mir wird jetzt ein starker Schmerz im Ellbogen des Polizisten vorgeworfen, eine zerrissene Tasche des Beamten und der Versuch, ihm den Gummiknüppel abzunehmen. Aber selbst auf dem veröffentlichten Video ist zu sehen, dass ich einfach die Arme ausgebreitet habe. Das ist nicht im Im Mindesten ein Angriff», sagte Kulij gegenüber Kogerzhin Sagiev, Mitglied der Gesellschaftlichen Beobachterkommission.

Der Fall Aleksandr Shpakov

Aleksandr Shpakov ist ein Tischler aus dem Moskauer Vorort Lubercy, er ist 39 Jahre alt. Am 26. März ging Shpakov mit der russischen Fahne über die Tverskaja Straße, in der Nähe riefen Menschen, dass Aleksej Naval’nyj verhaftet worden sei. «Danach stürzten alle zum nächsten Gefangenentransporter und ich geriet auch in diese Menge. Neben dem Transporter bekam ich einen Schlag auf den Kopf mit einem Gummiknüppel. Später, schon im Transporter selbst, in den ich gezerrt wurde, gab es erneute Schläge, jetzt schon auf die Nieren», erzählte Shpakov den Mitgliedern der Gesellschaftlichen Beobachterkommission. Nach der Festnahme wurde Shpakov mit dem Notarztwagen weggebracht, im Krankenhaus haben Ärzte Abschürfungen und Hämatome dokumentiert, ebenso wurde eine Tomographie und eine Aufnahme der Rippen angefertigt; danach ging Shpakov nach Hause. Shpakov: «Nachts gegen 3:00 Uhr wurde ich vom Klingeln an der Tür wach, schaute durch den Türspion — man versuchte, das Schloß zu öffnen. Nun und dann wurde ich mitgenommen, alle Dokumente wurden eingezogen, die Telefone, der Computer, die Kleidung, in der ich bei dem Marsch war, und diese Fahne.»

Aleksandr Shpakov / Ermittlungskomitee

Nach der Version der Ermittlung hat Shpakov dem Oberstleutnant Valerij Gonikov zwei Schläge versetzt. Der Beschuldigte selbst hat angemerkt, dass einer der Ermittler ein Schuldeingeständnis vorgeschlagen hatte. Shpakov weigerte sich, eine Schuld einzugestehen.Übrigens war auch Gonikov, ebenso wie der oben erwähnte Gavrilov, davor einer der Geschädigten im «Bolotnaja-Fall».

Am 24. April hielt das Moskauer Stadtgericht die Untersuchungshaft gegen Shpakov aufrecht, obwohl ein Vertreter der Staatsanwaltschaft vorgeschlagen hatte, ihn unter Hausarrest zu stellen. Der Rechtsanwalt Sergej Badamshin, der nach Übereinkunft mit Shpakov das Mandat übernommen hat, schloß im Gespräch mit OVD-Info nicht aus, dass der Fall bald vor Gericht kommt: nach seinen Angaben ist Shpakov bereits mehrfach verhört worden, es gab Befragungen von Polizeibeamten als Zeugen, es wurden Gegenüberstellungen und Gutachten durchgeführt.

Der Fall Dmitrij Bogatov

Am 1. April verkündete das Ermittlungskomitee die Einleitung eines weiteren Verfahrens wegen des Auftauchens einer Mitteilung unklarer Herkunft in sozialen Netzwerken, die dazu aufrief, auf den Roten Platz zu gehen: nach § 212 III StGB RF (Aufruf zu Massenunruhen). Am 6. April nahm das Ermittlungskomitee einen ersten «Verdächtigen» fest, am 7. April wurde sein Name bekannt. Es handelt sich um den 25-jährigen Moskauer Programmierer und Mathematiklehrer Dmitrij Bogatov. Das Gericht gab dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Untersuchungshaft gegen Bogatov nicht statt. Er wurde nicht freigelassen. Am nächsten Tag hielt man ihm eine schwerwiegendere Beschuldigung vor — Rechtfertigung von Terrorismus (§ 202.2 StGB RF und Vorbereitung zur Organisation von Massenunruhen (§ § 30 I i. v. m. § 212 I StGB RF). Danach wurde eine zweimonatige Untersuchungshaft verhängt.

Bogatov unterrichtet Mathematik an der Moskauer Finanz-Juristischen Universität. Er hat die mechanisch-mathematische Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität abgeschlossen, als Programmierer bei Samsung und Skontel gearbeitet. Nach der Version der Ermittlungen habe Bogatov versucht, am 2. April Massenunruhen in Moskau zu provozieren, indem er im Internet Informationen unter dem Namen Ajrat Bashirov verbreitet habe — bislang ist das einzige Beweismittel der Ermittlungen die IP-Adresse von Bogatov.

Der Mathematiker bestreitet seine Schuld und ein Mensch mit dem Nutzernamen «Ajrat Bashirov», dessen Postings nach wie vor im Internet auftauchen, hat bereits erklärt, dass er mit Bogatov nichts zu tun hat (zudem gibt es in dem Forum, in dem die «extremistischen» Materialien erschienen sind, drei Nutzer mit diesem Namen). Bogatov selbst bezeichnet sich als «Anhänger freier Software» und war allem Anschein nach der Administrator eines Knotenpunktes des TOR-Netzwerkes, was heißt, dass jeder Nutzer dieses Netzwerkes von seiner IP-Adresse aus schreiben konnte.

Nach einem ähnlichen Szenario sind Unannehmlichkeiten für hunderte und tausende Personen möglich, die im Internet Ankündigungen für Protestaktionen am 2. April verbreitet haben.

In genau diesem Verfahren haben schon die ersten Verhöre von «Zeugen» begonnen. Die bei unterschiedlichen Aktionen am 2. April in Moskau Festgenommenen wurden verhört oder man versuchte es. Befragt wurden sie nach der Aktion vom 26. März. Das Ermittlungskomitee lud mindestens drei Personen, die bei einer Einzelkundgebung am 2. April festgenommen worden waren, vor. Eine davon erzählte ausführlich über den Inhalt der Fragen, die insbesondere politische Ansichten, Accounts in sozialen Netzwerken und Hobbies betrafen.

Der Fall Vjatcheslav Mal’cev

Am 13. April fanden Hausdurchsuchungen bei dem Nationalisten Vjatcheslav Mal’cev und seinen Anhängern statt. Mal’cev wurde in Saratov verhaftet und nach Moskau gebracht. Hausdurchsuchungen fanden in Saratov auch bei Sergej Okunev, dem Mit-Inhaber von Mal’cevs Ressource «Artillerievorbereitung» statt; ebenso im Moskauer Umland im sogenannten Volkshaus der «Artillerievorbereitung»; in Moskau bei den Nationalisten Jurij Gorskij und Ivan Beleckij sowie bei einem Aktivisten mit dem Namen Aleksej in Ussurijsk. Gorskij und Beleckij wurden ebenfalls festgenommen (Beleckij wurde möglicherweise geschlagen). Es tauchten Mitteilungen auf, dass die Festnahme Mal’cevs mit dem Strafverfahren wegen Gewaltanwendung gegen einen Polizisten am 26. März zusammenhänge. Beleckij wurde in die Hauptverwaltung des Innenministeriums für Moskau gebracht, wo er — wie er später gegenüber OVD-Info erzählte — in einem Strafverfahren im Zusammenhang mit dem 26. März verhört wurde. Dabei musste er sich mit seiner Unterschrift dazu verpflichten, keine Einzelheiten öffentlich zu machen, die mit der Durchsuchung, der Festnahme und dem Verhör zusammenhängen. Gorskij wurde vom Ermittlungskomitee vorgeladen, als er aber mit seinem Anwalt dort hinkam, wurde ihm gesagt, dass er zu einem anderen Zeitpunkt vorgeladen werde. Auch er musste unterschreiben, dass er keine Einzelheiten zur Durchsuchung öffentlich macht; weiter wurde ein Protokoll aufgesetzt dass er sich einer rechtmäßigen Anweisung eines Ermittlers widersetzt habe. Gegen Mal’cev und seinen Gehilfen Konstantin Zelenin wurde eine Anzeige wegen des Nichtbeachtens rechtmäßiger Handlung von Polizeibeamten im Zusammenhang mit der Aktion vom 26. März erstellt. Am nächsten Tag wurden beide für 15 Tage festgenommen.

Strafsachen in anderen Städten

Ebenso gibt es Informationen über die Einleitung von Ermittlungsverfahren in anderen russischen Städten. In Volgograd figuriert im Strafverfahren wegen Gewaltanwendung gegen einen Vertreter der Staatsmacht (§ 318 StGB RF) der Student Maksim Bel’dinov, er darf die Stadt nicht verlassen. Nach Informationen der Novaja Gazeta wurde Bel’dinov festgenommen, als er einem Schüler helfen wollte, den die Polizei an Beinen und Armen trug. Der Schüler wurde ebenfalls festgenommen, aber ohne Anzeige aus der Polizeiwache entlassen. Der Anwalt von Maksim Bel’dinov hat sich mit «Mediazona» in Verbindung gesetzt und erzählt, dass der Vorfall zwischen seinem Mandanten und dem Polizisten nach der Kundgebung am 26. März stattfand, «als die Kundgebung bereits zu einem Marsch geworden war und der Marsch zu einem Zug durch die Straßen».

Bel’dinov verteidigte einen festgenommenen Minderjährigen, eilte herbei und traf einen Polizisten in die Seite. Bel’dinov hat seine Schuld gestanden und bereut, die Ermittlungen in dem Fall sind bereits abgeschlossen; die Verteidigung hofft auf eine Strafe, die nicht mit Freiheitsentzug verbunden ist.

In Tomsk wurde ein Ermittlungsverfahren wegen bewusster falscher Meldung eines Terroranschlages (§ 207 StGB RF) eingeleitet infolge der Eröffnung des Wahlkampfstabes von Naval’nyj am 21. März. An diesem Tag evakuierte die Polizei alle Aktivisten auf die Straße wegen einer angeblich im Gebäude befindlichen Bombe. In dieser Sache begann das Zentrum für den Kampf gegen den Extremismus mit der Vorladung von Teilnehmern an der Aktion am 26. März. Wie die Novaja Gazeta die Worte der Aktivisten wiedergibt, betraf ein Großteil der Fragen ihr Verhältnis zu Naval’nyj.

Ein weiteres Ermittlungsverfahren, das indirekt mit dem 26. März zusammenhängt, wurde in Irkutsk eingeleitet. Am 8. April wurden einige Personen festgenommen; alle hatten an der Aktion am 26. März teilgenommen und wollten am 9. April eine Versammlung durchführen, die den Ereignissen vom 26. März gewidmet sein sollte. Später stellte sich heraus, dass gegen einen von ihnen (Dmitrij Litvin) ein Verfahren wegen der Beleidigung der Gefühle von Gläubigen (§ 148 StGB RF) eingeleitet worden war für irgendeine Veröffentlichung in einem sozialen Netzwerk; alle anderen haben in dem Verfahren die Rolle von Zeugen. Dennoch wurden sie im Zentrum für den Kampf gegen Terrorismus zu den Protestaktionen und Aufrufen zu Terrorismus befragt. Litvin hat den Status eines Beschuldigten und darf die Stadt nicht verlassen, mit ihm arbeitet ein «Pflichtverteidiger». Igor’ Martynenko, einer der Aktivisten, der für ein Verhör als Zeuge festgenommen worden war, bekam wegen der Ordnungswidrigkeit einer rechtmäßigen Anweisung eines Polizisten nicht Folge geleistet zu haben, zehn Tage Haft. Das Berufungsgericht reichte die Akte für eine neue Verhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurück, wonach erneut eine Entscheidung für Haft gefällt wurde, dieses Mal für sechs Tage. Am 24. April wurde diese Entscheidung aufgehoben.

In Petrozavodsk versuchten die Rechtspflegeorgane nach dem 26. März den Organisator der Aktion Vitalij Fleganov für eine Ordnungswidrigkeit zur Verantwortung zu ziehen und Unbekannte versuchten, ihn zu entführen. Während der Aktion nahm die Polizei sechs Teilnehmer fest. Fast alle wurden ohne Anzeigen wieder entlassen mit Ausnahme des Insolvenzmanagers Evgenij Vladenkov. Gegen ihn wurde eine Anzeige nach § 19.3 I OWiG RF (Nichtbeachten einer rechtmäßigen Anweisung eines Polizeibeamten) erstellt. Am 27. März reichte das Petrozavodsker Stadtgericht die Akte zwei Mal an die Polizei zurück, weil die Anzeige von nicht dazu berechtigten Personen ausgestellt worden war. Nach Mitteilung der [Nachrichtenseite] Tshernika versuchen die Rechtspflegeorgane ein Strafverfahren nach § 318 I StGB RF (Anwendung von Gewalt gegen einen Polizeibeamten) gegen Evgenij Vladenkov einzuleiten. Laut Vladenkov hat ein Polizeimajor zur Konstruktion eines Falls einen Bericht darüber geschrieben, dass ihm ein Schlag versetzt worden sei. Vladenkov vermutet, dass der Polizeimajor sich in seinem Bericht auf eine Videoaufzeichnung vom 26. März stützt, auf dem er schreiend hinter einem Festgenommenen herlief, der zum Gefangenentransporter gebracht wurde, wonach er selbst in grober Form festgenommen wurde. Bislang hat Vladenkov keine Vorladungen erhalten.

Massenhafte Einschüchterung und Druck

Mit der Vorbereitung von Strafverfahren sind die Langzeitfolgen der Aktion vom 26. März noch nicht erschöpft.

In allen Regionen Russlands, in denen Aktionen stattfanden, hat eine massenhafte Welle der Druckausübung auf die Teilnehmer begonnen. Aktivisten werden festgenommen, zu Verhören vorgeladen, exmatrikuliert oder man droht ihnen mit dem Ausschluss aus der Hochschule, es werden Gespräche mit ihren Eltern geführt.

Derartige Meldungen auf der Hotline von OVD-Info hören nicht auf und wir führen nur einige Fälle an, die das, was gerade im ganzen Land geschieht, sehr gut illustrieren.

In Tcheboksary wurde ein Teilnehmer an der Aktion direkt während der Probe eines Orchesters, in dem er Geige spielt, festgenommen. In Archangelsk brachte die Polizei eine ältere Frau gewaltsam aus einem Krankenhaus vor Gericht. Im Primorer Gebiet werden Schuldirektoren dazu aufgefordert, den Schülern zu verbieten, an Demonstrationen der Opposition teilzunehmen. In Volgograd werden Schüler vom Ermittlungskomitee vorgeladen und die Polizei geht mit den Fotografien von Teilnehmern durch die Universitäten und nimmt sie direkt während der Vorlesungen fest.

In Tchita riefen Mitarbeiter des FSB die Mutter des Organisators der Aktion an und baten sie, «den Sohn an die Kandare zu nehmen». Auch in Saratov werden Studenten direkt im Institut festgenommen. In dieser Stadt, in der es während der Aktion überhaupt keine Festnahmen gab, verspricht man dennoch, hunderte Teilnehmer zur Verantwortung zu ziehen. Weiter wurde dort ein Aktivist zur Polizei vorgeladen, indem man ihn vom Telefon seiner Mutter aus anrief. In Krasnojarsk gibt es Anrufe der Polizei mit Fragen zur Korruption und zu Naval’nyj (solche Anrufe erhalten auch Personen, die überhaupt nicht bei der Aktion waren). In Orsk kamen Mitarbeiter der Straffahndung zu einem Aktivisten nach Hause. Alena Blinova, Erzieherin aus Tcheboksary, die nach der Kundgebung gekündigt wurde, erhielt eine Geldstrafe in Höhe von 1000 Rubeln, weil sie in einem sozialen Netzwerk ein Foto des Duma-Abgeordneten Vitalij Milonov in einem T-Shirt mit der Aufschrift «Orthodoxie oder Tod!» veröffentlicht hatte. In dieser Stadt werden auch Aktionsteilnehmer gekündigt oder aus den Universitäten exmatrikuliert. Es werden auch Zeugen direkt während Gerichtsverhandlungen festgenommen und dann zu Geldstrafen verurteilt. In Nizhnyj Novgorod erstellte die Polizei Protokolle über «die Nicht-Erfüllung der Pflichten zur Erziehung von Minderjährigen» gegen die Eltern von jungen Aktivisten.

Außerdem haben die Staatsorgane in einigen Regionen die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit verschärft. In Tomsk wurde der örtliche «Hyde-Park» aus dem Zentrum in ein Industriegebiet verlegt. In Samara wurde aus den «Hyde-Parks» derjenige ausgeschlossen, in dem die Aktion am 26. März stattfand. In Tatarstan wurden die Regeln für die Anmeldung einer Veranstaltung erschwert.

Nachwort

Wir haben nur einzelne Fälle der Druckausübung beschrieben und wissen möglicherweise noch nicht von allen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und sogar noch nicht von allen Festnahmen. Aber leider ist die Tendenz bereits zu erkennen: Als Antwort auf die Aktion vom 26. März hat die Staatsmacht die Vorbereitung eines neuen politischen Strafverfahrens begonnen und einen Mechanismus der Einschüchterung und Druckausübung gegen Aktivisten im ganzen Land in Gang gesetzt.

OVD-Info hat schwerwiegende Gründe für die Annahme, dass die Repressionen fortgesetzt werden und wir bald von neuen Verhaftungen in Strafsachen im Zusammenhang mit dem 26. März hören werden.

Das Ermittlungskomitee hat bereits erklärt, dass wegen der Ereignisse am 26. März in Moskau weiter ermittelt wird, ebenso finden weiter ermittlungstechnische Maßnahmen mit Personen, die in das Strafverfahren involviert sind, statt. Die fortlaufend eintreffenden Informationen über Vorladungen zu Verhören im Ermittlungskomitee, der Prozess der ersten Beweis-«Sammlung» selbst (Verhöre ohne Rechtsanwälte auf Polizeiwachen und in Sondergefängnissen, psychologische Druckausübung und Drohungen), das Fehlen von unabhängigen Rechtsanwälten bei den ersten Festgenommenen und deren teilweise Schuldeingeständnisse — all’ das weist unzweideutig darauf hin, dass es Pläne gibt, die Zahl der Verdächtigen und Festgenommenen weiter zu erhöhen.

Wir rufen sowohl die russische Zivilgesellschaft als auch internationale Menschenrechtsinstitutionen dazu auf, dieser Situation höchste Aufmerksamkeit zu widmen.

Wir rufen auf zu internationalen Ermittlungen der Ereignisse des 26. März und der darauf folgenden Repressionen.

Wir rufen dazu auf, auf rechtliche Konsequenzen für alle Menschenrechtsverletzungen durch die Exekutive und Gerichte zu drängen, die nach unserer Überzeugung bereits gegen ganz konkrete Personen — Teilnehmer der Aktion vom 26. März — stattgefunden haben.

Noch lässt sich das Schwungrad der politischen Repressionen, das erneut Fahrt aufnimmt, anhalten. Und man kann sicher noch vielen konkreten Personen helfen, die bald vom zynischen, unmenschlichen und gesichtslosen Repressionssystem zerdrückt werden könnten.

PS. Einschätzungen

Dmitrij Peskov, Pressesprecher von Vladimir Putin, nannte die Aktionen vom 26. März rechtswidrig, warf ihren Organisatoren Provokation vor und dass sie Teilnehmer gekauft hätten. Die Polizei hingegen bewertete er positiv, sie habe «absolut korrekt, hochprofessionell und gesetzmäßig» gehandelt. Igor Zubov, stellvertretender Leiter des Innenministeriums, bezeichnete die Handlungen der Aktionsteilnehmer ebenfalls als Provokation, bewertete das Verhalten der Polizei positiv und versprach, in Zukunft härter durchzugreifen. Michail Fedotov, Vorsitzender des Rates für zivilgesellschaftliche Entwicklung und Menschenrechte beim Präsidenten, erklärte, dass «die Polizei lediglich die gesetzlichen Anforderungen erfüllt». Er weigerte sich, die Initiative von Mitgliedern des Menschenrechtsrates zur Gründung einer Arbeitsgruppe zur Informationssammlung, Analyse und Vorbereitung eines öffentlichen Berichts zu den Ereignissen vom 26. März zu unterstützen. Er versprach, im Namen des Menschenrechtsrates zur «Klärung der Wohnungsfrage» für den Polizeibeamten Evgenij Gavrilov beizutragen, gegen den nach Ermittlerangaben Gewalt angewendet worden war. Vladimir Tchernikov, Leiter der Abteilung für regionale Sicherheit und Korruptionsbekämpfung in Moskau, bewertete die Handlungen der Polizei positiv und erklärte, dass die Festgenommenen «eindeutig das Gesetz verletzt haben, indem sie zu dieser Veranstaltung gekommen sind». Tatjana Moskalkova, Menschenrechtsbeauftragte, erklärte, dass im Ergebnis ihrer Überprüfungen «35 °Fälle unbegründeter Ordnungsstrafen» festgestellt wurden. Sie merkte an, dass es «keinen einzigen Fall von Körperverletzung [durch die Polizei] gegeben hat» und beurteilte die Arbeit der Polizei ebenfalls positiv. «Dass es am 26. März keine Körperverletzungen gab, heißt, dass die Berufsethik wächst».

Maina Kiai (UN-Sonderberichterstatter zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), David Kaye (UN-Sonderberichterstatter zur Meinungsfreiheit), Michel Frost (UN-Sonderberichterstatter zur Lage von Menschenrechtsverteidigern) und Sètondji Roland Adjovi (Vorsitzender der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Festnahmen) gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die russischen Staatsorgane dazu aufforderten, «umgehend alle Demonstranten freizulassen, die sich noch in Gewahrsam befinden und ebenso die Urteile gegen sie aufzuheben». Außerdem forderten sie «die direkten Verpflichtungen in Übereinstimmung mit internationalem Recht im Bereich Menschenrechte zu verteidigen und dazu beizutragen, dass das Recht auf die Freiheit friedlicher Versammlungen, das Recht auf Meinungsfreiheit und ihren freien Ausdruck und das Recht auf Vereinigungsfreiheit gewährleistet sind und sich nicht in die Wahrnehmung dieser Rechte einzumischen». Das Menschenrechtszentrum «Memorial» rief dazu auf, «umgehend die Verfolgung von Teilnehmern an friedlichen Versammlungen zu beenden und diejenigen freizulassen die zu Ordnungshaftstrafen verurteilt wurden». Weiter forderte Memorial die «Amtsträger, die an den Verletzungen der Rechte und Freiheiten der Versammlungsteilnehmer schuld sind», zur Verantwortung zu ziehen, und nannte die Ereignisse «eine neue Welle politischer Repressionen»: «Heute muss alles unternommen werden, um diese Welle aufzuhalten und die katastrophalen Folgen für die Gegenwart und Zukunft des Landes zu vermeiden». Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International erklärte, dass «die Machthaber zynisch das Recht der Bürger auf die Freiheit zu friedlichen Versammlungen verletzt haben» und dass «alle am Sonntag, den 26. März festgenommene friedliche Demonstranten in Moskau und anderen Städten Russlands umgehend und bedingungslos freigelassen werden müssen».

OVD-Info bedankt sich für die Übersetzung ins Deutsche bei Martina Steis (Berlin).